Neu sortiert: Interview
Arbeitsbedingungen unter Corona
Wie soziale Arbeit trotz und mit Infektionsschutzmaßnahmen gelingt
Die Corona-Krise hat Vieles auf den Kopf gestellt – auch unsere Arbeitsbedingungen. Einrichtungen mussten für Externe geschlossen werden, Kontakt mit Klient*innen war unter anderen Voraussetzungen oft nicht möglich.
Ab ins mobile Arbeiten? Klingt gut, ist aber gar nicht so einfach umzusetzen.Wir haben einige Kolleg*innen nach ihren Erfahrungen im ersten Corona-Halbjahr befragt:
Wir sprechen mit:
Jeanette Boetius (JB), Sozialpädagogische Leitung Jugendhilfe
Tetyana Breurosh (TB), Sozialpädagogische Begleitung Pro. Hilfe durch Arbeit
Doris Hailer (DH), Leitung Ambulante Erziehungshilfe
Eva Kuhnt (EK), Leitung Kindergarten Graslilienanger
Angelika Rehn (AR), Leitung Kinderkrippe Gruithuisenstraße
Team BEW Junioren (BEW)
Die Corona-Krise hat den Arbeitsalltag von vielen von uns verändert. Wie habt Ihr das erlebt?
EK: Am Auffälligsten hat sich bei uns die pädagogische Arbeit verändert. Normalerweise arbeiten wir weitgehend nach dem „offenen Konzept“, d.h. bis auf wenige Türen sind alle geöffnet und unsere Kinder bewegen sich im ganzen Haus, wählen sowohl ihreSpielpartner*innen als auch Spielorte nach ihren Interessen frei aus. Bei der Betreuung der Funktionsräume wechseln auch die pädagogischen Mitarbeitenden. Außerdem gibt es hausübergreifende Angebote für Interessensgruppen. All das, was unsere Besonderheit ausmachte,dürfen wir im Moment nicht durchführen. Die Kinder und Mitarbeitenden verbringen den ganzen Tag in geschlossenen Gruppen. Begegnungen mit anderen Menschen im Haus sind kaum möglich. Für unsere Kinder anfänglich nicht begreifbar, dass sie nicht den Raum wechseln oder ihre Freunde aus anderen Betreuungsgruppen treffen dürfen. Selbst unser Garten wurde in kleine Parzellen eingeteilt und die Kinder dürfen sich nur in diesen abgegrenzten Bereichen bewegen. Nicht einmal in den Waschräumen oder beim Toilettengang ist ein kleiner „Plausch“ unter Freund*innen möglich. Auch für uns Erwachsene ist es schwierig. Wir müssen neue Möglichkeiten finden, den pädagogischen Alltag zu gestalten. Wenigstens kleine Gelegenheiten entwickeln, um aus der reinen Betreuung der Kinder heraus zu kommen und wieder Bildungsangebote zu machen. Einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Einrichtungen in München haben wir mit unserer exponierten Lage an der Nordheide. Vor allem im warmen Sommer konnten die einzelnen Betreuungsgruppen großzügig Feld, Wald und Wiese entdecken, die zahlreichen und unterschiedlich gestalteten Spielplätze in der Siedlung erkunden. Naturerfahrungen, Erkundungen des heimatlichen Umfelds sind also immer noch gut möglich. Die Bildungsangebote im Haus erfordern gute Koordination, die Nutzung der „besonderen“ Räume, wie Turnraum, Werkstatt und Garten „gerechte“ Absprachen. Die Pädagog*innen müssen Wege finden, die Interessen der Kinder in ihren Betreuungsgruppen aufgreifen und in Kleinstgruppen zu bearbeiten. Da die Räumlichkeiten des Hauses begrenzt sind, gestaltet sich das oft schwierig, wenn der Hygieneplan eingehalten und Begegnungen mit anderen im Haus vermieden werden sollen.
Jeanette Boetius „Mein großes Team hat sich seit Beginn der Coronakrise nicht mehr gesamt getroffen.”
JB: Mir fällt auf, dass sich vor allem die Zusammenarbeit mit Netzwerkpartner-*innen und die Gremienarbeit verändert hat. Die Netzwerkarbeit findet vor allem telefonisch statt, es ist erstaunlich wie gut das funktioniert. Gremien- und Netzwerktreffen werden gerade als kombinierte Telefon-/Videokonferenz abgehalten, manche auch nach dem Delegiertenprinzip. Außerdem hat sich der Verwaltungsaufwand erhöht. Hier schlagen sich besonders die vielen kleinen Einrichtungen/Projekte nieder, die ich leite: Leistungsbeschreibungen mussten erstellt werden, Hygienekonzepte immer wieder angepasst, die personellen Maßnahmen müssen geführt werden usw. Auch unsere Teamtreffen sind verändert, mein großes Team (mit mir 16 Personen) hat sich seit Beginn der Coronakrise nicht mehr gesamt getroffen, weil es schwierig ist,für sie alle einen Raum zu finden. Deshalb habe ich die Teams geteilt. Alle Termine mit dem Kostenträger, die im ersten halben Jahr 2020 nicht stattfinden konnten, werden jetzt(als Telefonkonferenz) nachgeholt. Insgesamt telefoniere ich viel mehr.
BEW: Leider ist Austausch im Team weniger geworden, es finden keine „Tür- und Angelgespräche“ statt und auch unsere wöchentliche Morgenrunde und gemeinsames Mittagessen haben wir erst einmal verschoben. Darunter leidet die eigene Psychohygiene, eine unmittelbare Entlastung ist dadurch oft gar nicht oder nur eingeschränkt möglich. Aufgefallen ist uns auch, dass die Absprachen zur Raum- und Bürobelegung aufwändiger sind. Auch der Kontakt mit Klient*innen gestaltet sich „umständlicher“: Wie können wir Beratungs-/Begleitungstermine durchführen und gleichzeitig Hygieneregeln einhalten? Termine in den Klient*innenwohnungen machen wir momentan seltener, dadurch haben wir auch weniger Einblick in die häusliche Situation und Haushaltsorganisation.
Eva Kuhnt „Manchmal braucht es Einschränkungen auf einer Seite, damit neue Blickwinkel entstehen, sich neue Wege auftun und Bewegungen auf einer anderen Seite entstehen können. Das hat mich persönlich die Erfahrung mit der Corona-Pandemie gelehrt. Man darf sich nur nicht ängstigen und verschrecken lassen. Man muss bereit sein, sich auf Neues einzulassen und mutig auf den Weg zu machen, selbst auf die Gefahr hin, Fehler zu begehen. Auch Fehler sind immer eine Gelegenheit zum Lernen.”
DH: Für die AEH bedeutet Corona eine gesamte und wirklich tiefgreifende Veränderung der Arbeitsbedingungen. Wir mussten strukturelle Veränderungen vornehmen, Räumlichkeiten und Büros verändern, Gruppenräume neu gestalten und Arbeitsweisen anpassen. Das Herzstück unserer Arbeit ist die aufsuchende und begleitende Sozialpädagogische Familienhilfe, unterstützt durch die Sozialpädagogische Gruppenarbeit. In Corona-Zeiten wurde dies neu definiert. Sind Hausbesuche noch möglich und sinnvoll? Wie viele Kinder sind eine Gruppe und was ist bei „rot“? Wir sind kreativ geworden, haben alle Formate angepasst und bieten viele kleine zusätzliche Angebote an.
AR: Die Kommunikation untereinander mit Maske ist teilweise sehr schwierig, das Gegenüber muss mehrmals nachfragen, inzwischen haben wir aber gelernt, die Mimik entsprechend zu deuten. Ich fühle mich durch die Maske manchmal sehr müde und bewundere meine Kolleg*innen, wie Sie mit den Kindern den Tagesablauf meistern, die Kinder kennen uns ja nur noch mit Maske. Uns sind soziale Kontakte wichtiger geworden, auch meine Mitarbeitenden kommen gerne in die Einrichtung. Ich freue mich, dass es seit Corona-Ausbruch kaum Ausfälle gibt. Die ständige Überarbeitung der Hygienepläne, neue Planungen, Revidierungen - das bringt viele Veränderungen mit sich. Die Umstellung auf Onlineseminare hat gezeigt, dass wir damit noch keine weiteren Berührungspunkte hatten. Wie schafft man es da mitzuhalten? Corona macht mir auch Angst, nicht, dass ich mich anstecke, sondern dass es hier in der Krippe mal ausbricht. Zwar kommen die Eltern weiterhin in das Haus, aber der Umgang ist anders als vor Corona.
EK: Nicht alles, was wir an Veränderungen durchführen mussten, ist negativ zu bewerten. Um Begegnungen von Menschen aus unterschiedlichen Haushalten weitestgehend einzuschränken, haben wir uns entschlossen, Eltern den direkten Zutritt ins Haus nur in Ausnahmesituationen zu genehmigen. Wir sind in der vorteilhaften Situation, dass unser Grundstück über drei verschiedene Eingangsmöglichkeiten verfügt. Eltern dürfen Ihre Kinder an einem für die unterschiedlichen Betreuungsgruppen extra ausgewiesenen Eingang bringen und abholen. Es wurde ein „Pförtnerdienst“ eingerichtet, der die Kinder in Empfang nimmt und beim Abholen wieder ans Tor bringt. Wir waren sehr gespannt, wie diese Vorgehensweise bei Kindern und Eltern ankommen wird. Bei den Kindern konnten wir schon nach kurzer Zeit feststellen, dass sie das Ankommen, mit An- und Ausziehen, Schuhe wechseln, Tasche und Jacke etc. aufhängen und aufräumen, sehr selbstständig meisterten. Bei vielen war ein zunehmend selbstbewusstes Handeln zu bemerken, was sich durchaus auf ihren ganzen Kindergartenalltag übertrug. Waren die Eltern anfänglich sehr skeptisch, ob ihre Kinder die Verabschiedung am Tor verkrafteten, konnten viele diese Entwicklung bei ihren Kindern ebenfalls beobachten. Eine Mutter stellte erstaunt fest, dass ihre kleine 3-jährige Tochter durchaus in der Lage war, die Eingangstür, die sie ihr immer aufgehalten hatte, weil sie ihr zu groß und schwer erschien, selbst zu öffnen.Selbst Eingewöhnungen konnten teilweise ohne Eltern oder mit nur sehr kurzer Anwesenheit der Begleitpersonen stattfinden. Sogar das pädagogische Personal staunte oft nicht schlecht, was Kinder in der Lage sind zu bewerkstelligen, wenn man sie lässt und ihnen etwas zutraut
TB: Corona hat viele Herausforderungen mit sich gebracht. Auf einmal durften unsere Klient*innen nicht mehr in ihren Einrichtungen arbeiten, über drei bis vier Wochen haben keine persönlichen Kontakte stattgefunden. Telefonische Gespräche waren eine erste gute Lösung, einige Klient*innen haben sich per Email an uns gewandt, was sie früher selten gemacht haben. Was ich festgestellt habe: telefonische Kontakte sind auch wichtig und man kann Gespräche auch telefonisch gut gestalten. Mir ist es gelungen, während des Lockdowns in einem guten Kontakt mit meinen Klient*innen zu bleiben. Und ich freue mich, dass sie ihre Maßnahmen nicht abgebrochen haben.
Links zum Interview
- Das ganze Interview gibt es hier
- BEX 2020/23 PDF (5.43 MB)